von Dieter Brandt
erschienen in Mathematik in der Schule, 4(1997)
Anwendungsaufgaben
Anwendungen haben in den letzten Jahren bei der mathematischen Schulbildung wieder an Bedeutung gewonnen. Das zeigt sich in zahlreichen Arbeiten und Themen der didaktischen Literatur, in neuen Lehrplänen und Schulbüchern (siehe z.B. [2]). In der vorliegenden Arbeit soll eine relativ einfache Anwendung aus der Raumfahrt vorgestellt werden. Es geht darum, wie ein Raumfahrer die Erde sieht. Diese Aufgabe kann man sowohl in einer 9. oder 10. Klasse wie auch in der Oberstufe ohne allzuviel Aufwand behandeln. Im ersten Falle lässt sie sich mit Hilfe der Strahlensätze lösen, im zweiten Fall mit Hilfe der analytischen Geometrie. In der vorliegenden Form wurde die Aufgabe in einer Begabten AG (Oberstufe) weitgehend von den Schülern selbstständig gelöst und anschließend in Turbo Pascal programmiert. Zumindest das Aufstellen der Abbildungsgleichungen dürfte sich aber ohne große Probleme auch im Regelunterricht als Anwendungsaufgabe integrieren lassen.
Problem Satelliten-Fotografie
Ein Satellit S befindet sich in der Höhe h über dem Erdboden;
die Erde wird der Einfachheit halber als Kugel angenommen. Wenn von dem
Satelliten fotografische Aufnahmen gemacht werden, kommt es notwendigerweise
zu Verzerrungen. Dabei sind zwei Probleme interessant:
Wir brauchen nur die Positionen auf dem Foto auf die Erdoberfläche zurückzurechnen, dh. wir müssen die Umkehrung der in 1. definierten Abbildung(en) vornehmen.
Der Punkt P auf der sichtbaren Kugeloberfläche sei gegeben. Von
S aus wird zunächst ein Strahl SF' senkrecht zu E gezogen.
Dieser schneidet die Ebene parallel zu E durch P im Punkt F. Die Punkte
F und P bestimmen ein Rechteck mit den Seiten u und w, welches auf das
Bildrechteck mit den Seiten u' und w' in der Ebene E abgebildet
wird. Um die Abbildung a zu bestimmen, brauchen wir nur u' und w' in Abhängigkeit
von den gegebenen Größen u, w und anzugeben.
Aus Bild 2 liest man ab :
, also erhalten
wir die Abbildungsgleichungen
(1)
Die Ebene E und damit ihr Abstand d' von S ist durch die Lage
S des Satelliten festgelegt. Dieser befinde sich in der Entfernung H vom
Erdmittelpunkt M. Wir stellen d' noch dar mit Hilfe des Erdradius' R (Bild
3).
Es ist d' = H - a, und nach dem Kathetensatz in dem rechtwinkligen Dreieck
MTS gilt .
Daraus folgt
Somit erhalten wir noch für die Konstante c in den Abbildungsgleichungen (1):
(2)
Bestimmen der Abbildungsgleichung mit Mitteln der analytischen Geometrie
Wir verwenden ein kartesisches Koordinatensystem mit dem Erdmittelpunkt
als Ursprung und den Achsen wie in Bild 4. Der Einfachheit halber
nehmen wir an, dass der Satellit sich auf der y-Achse am Punkt S(0|H|0)
befindet. Die Ebene E hat die Gleichung y = a (vgl. Bild 3). Mit dem Kathetensatz
ergibt sich daraus
(3)
Der Punkt P(u|v|w) sei ein Punkt auf dem von S aus sichtbaren Teil der
Erdoberfläche.
Die Gleichung der Geraden SP ist
.
Wir bestimmen den Schnittpunkt P' von PS und E :
eingesetzt in
(3) ergibt
(4)
als Parameter für den Schnittpunkt P'. Damit erhalten wir für die Koordinaten von P':
(5)
Da v' für alle Punkte auf E gleich ist, interessieren uns nur u'
und w'. Wegen
(vgl. Bild 2) stimmen die Parameter c in Gleichung (2) und t in Gleichung
(4) überein; wir erhalten also (natürlich) bei beiden Wegen dieselbe
Abbildungsgleichung. Für die folgenden Berechnungen stellen wir noch
die Koordinaten von P mit Hilfe von Kugelkoordinaten dar, damit wir die
Orte der Erdoberfläche mit Hilfe ihrer geografischen Breite a und
ihrer geografischen Länge d eingeben können. Es gilt (siehe auch
Bild 10) :
(6)
Graphische Darstellung
Ohne Computer ist die graphische Darstellung natürlich sehr aufwendig. Aber zumindest ein grober Eindruck der Abbildung läßt sich erreichen, wenn man einige Werte mit dem Taschenrechner berechnet und in ein Koordinatensystem einträgt. Um einen brauchbaren Maßstab zu erhalten, setzen wir R = 6,37 (cm), denn der Erdradius beträgt etwa 6370 km. Im Rechenbeispiel verwenden wir H = 1,2 R, dh. wir schauen aus etwa 1300 km Höhe (über der Erdoberfläche) auf die Erde hinunter. Wir erhalten folgende Werte :
a /° | 75 | 75 | 75 | 90 | 90 | 90 | 105 | 105 | 105 |
d /° | 0 | 10 | 20 | 0 | 10 | 20 | 0 | 10 | 20 |
u | 1,65 | 1,62 | 1,54 | 0 | 0 | 0 | -1,65 | -1,62 | -1,55 |
v | 6,15 | 6,06 | 5,78 | 6,37 | 6,27 | 5,99 | 6,15 | 6,06 | 5,78 |
w | 0 | 1,11 | 2,18 | 0 | 1,11 | 2,18 | 0 | 1,11 | 2,18 |
u' | 2,58 | 2,39 | 1,94 | 0 | 0 | 0 | -2,58 | -2,39 | -1,94 |
v' | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 | 5,31 |
w' | 0 | 1,63 | 2,73 | 0 | 1,88 | 3,07 | 0 | 1,63 | 2,73 |
Für die grafische Darstellung benötigen wir nur u' und w' (siehe Bild 2) . Wir erhalten Bild 5. Die Punkte sind dort entsprechend dem Gradnetz der Erde geradlinig verbunden, so dass man einen ersten Eindruck von der Verzerrung erhält.
Mit Computer hat man natürlich bessere Darstellungsmöglichkeiten. Zunächst kann man die Tabelle auf Seite 4 mit einer Tabellenkalkulation erstellen und dann in ein Schaubild übertragen. Komfortabler ist die graphische Darstellung mit Hilfe eines eigenen Programms, die für einen Schüler mit Freude am Programmieren eine schöne und erweiterungsfähige Aufgabe darstellt. Im einfachsten Falle wird man sich mit einer verbesserten Darstellung von Bild 5 zufriedengeben, bei der die Schrittweite für a verfeinert wird (Bild 6).
Als nächstes wird man ein vollständiges Gradnetz des sichtbaren Teiles der Erdoberfläche in Angriff nehmen :
Bild 7
Als Sichtbarkeitsbedingung braucht man nur zu untersuchen, ob ein abzubildender Punkt P „vor" der Ebene E liegt, dh. auf derselben Seite von E wie der Satellit S (Bild 4). Dies ist offenbar erfüllt, wenn in Gleichung (3) das „>" - Zeichen statt dem Gleichheitszeichen steht :
Sichtbarkeitsbedingung für einen Punkt P auf der Erdoberfläche
: (7)
Im nächsten Schritt, dessen Rechendetails wir hier übergehen, kann man die Lage des Satelliten verändern, der sich bisher direkt über dem Äquator befindet. Die Ansicht über einem Ort mit der geografischen Breite 40° stellt sich z.B. dann so dar :
Bild 8
Und wer genügend Zeit und Lust investiert, kann noch Kontinente, Städte etc. eintragen und erhält dann etwa Bild 8. Hier wurde die y-Achse so gelegt, dass man sich bei a = 70° westlicher Länge und der Breite d = 15° über der Karibik befindet; man „sieht" die Weltraumstartrampen Cape Canaveral (USA) und Kourou (franz. Guayana). Natürlich lässt sich das noch beliebig erweitern und verfeinern, ein Video „Satellitenflug" lässt sich z.B. erstellen, aber mathematisch ergibt sich dadurch nichts Neues.
Bild 9
Bestimmen der geografischen Koordinaten aus dem Satellitenfoto
Nun ist also P' in Bild 2 bzw. Bild 4 gegeben und P gesucht. Wir betrachten
hier nur den Weg mit Hilfe der analytischen Geometrie. Da der gesuchte
Punkt P auf der Kugel K mit der Gleichung
liegt, ist nun die bekannte Gerade SP' :
mit dieser Kugel zu schneiden. Dies führt
zunächst auf eine quadratische Gleichung für den Parameter t,
die entsprechend der Aufgabenstellung eine Lösung t zwischen 0 und
1 haben muss, da P zwischen P' und S liegen muss. Mit Hilfe dieser Lösung
erhalten wir die Koordinaten u,v,w von P und daraus schließlich (siehe
Bild 10)
(8) ,
also die geographischen Koordinaten von P. Auf Rechenergebnisse wollen wir hier nicht näher eingehen.
Didaktische Betrachtung
Die behandelten Aufgaben zeigen, wie elementare Methoden der Mathematik anwendbar sind und tragen somit zu einem tieferen Verständnis von Mathematik bei (siehe dazu [4]). Sie sind einfach gestellt, schließen an Erfahrungsbereiche der Schülerinnen und Schüler an (Satellitenfotos, eigene Fotoarbeiten) und sind fächerübergreifend (Mathematik, Geographie, Physik). Trotzdem sind sie vor allem wegen der raumgeometrischen Aspekte nicht anspruchslos. Mehrere Lösungsmöglichkeiten bieten die Möglichkeit des Einsatzes in verschiedenen Stufen, aber auch die Hoffnung, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler eine Lösungsidee finden (siehe dazu auch [1]). Durch die zahlreichen Erweiterungsmöglichkeiten bieten sich den Schülerinnen und Schülern vielfältige Möglichkeiten, an den Problemstellungen weiterzuforschen, sei es mit dem Computer als Hilfsmittel, sei es bei der Problematik, wie man Karten der Erde erstellt (siehe dazu [5]). Auch wenn es sich eher um eine „klassische" Aufgabenstellung handelt, ist die Problematik schon wegen der Einsatzmöglichkeiten von Computern hochaktuell. Das Thema „Raumfahrt und Mathematik" kommt überhaupt gut bei Schülerinnen und Schülern an und lässt sich motivierend verwenden. Dies zeigte sich bei der Behandlung weiterer Aufgaben in der oben angesprochenen Begabten-AG zu dem Thema, angeregt durch das Buch mit dem gleichen Titel (siehe [3]), aus dem auch das behandelte Problem entnommen ist. Zudem ist bei dieser Art von Aufgaben klar, wie die Mathematik die Wirklichkeit beschreiben kann; der sonst oft so komplexe und schwierige Prozess des Modellbildens ist hier kein großes Problem.
Literaturangaben
[1] Ambrus, Andreas; Walsch, Werner : Suchen nach verschiedenen Lösungswegen bei Anwendungsaufgaben, Mathematik in der Schule 9(1996), Seite 449-456.
[2] Kaiser, Gabriele : Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, Schriftenreihe der Istron-Gruppe (Materialien für einen realitätsbezogenen MU 2(1995), Seite 66-84 ; dort finden sich sehr umfassende weitere Literaturangaben zum Thema.
[3] Kastner, Bernice; Fraser, Simon : Raumfahrt und Mathematik, Klett Verlag, Stuttgart, 1993 (Übersetzung aus dem Amerikanischen)
[4] Kirsch, Arnold : Verstehen des Verstehbaren - auch im anwendungsorientierten Unterricht, Didaktik der Mathematik, Aulis Verlag, Köln, 23(1995)4, S.250-264
[5] Schröder, Eberhard : Kartenentwürfe der Erde, Taschenbuch, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1988